?Roter Winkel, hartes Leben?, heißt das Buch des Journalisten und Fotografen Till Mayer aus Bamberg. Immer wieder fährt er für das Rote Kreuz in die Krisengebiete auf der ganzen Welt, sei es Ruanda, das ehemalige Jugoslawien oder der Irak. Krieg, Folter, Terror heute. In Mayers Buch aber geht es um Folter und Terror damals, um Überlebende aus deutschen Konzentrationslagern. 14 Portraits von alten, gezeichneten Menschen, die heute in Lviv (Lemberg) in der Ukraine leben, zeichnen ein Bild von der Hölle, die diese Menschen durchlebt haben. Der rote Winkel stand als Symbol für ?politisch Gefangene?. Mayer zeigt diese Gefangenen heute in Schwarzweiß-Fotografien, meist ernst, manchmal mit einem Hauch von Lächeln, manchmal auch mit geschlossenen Augen oder mit Tränen. Das vermittelt Nähe und lässt gleichzeitig Raum für eigene Gedanken. Ob sie nun Antonina oder Iwan, Marija oder Petro heißen, sie alle haben auch nach 60 Jahren noch Schwierigkeiten, über ihre Monate und Jahre in Auschwitz, Buchenwald oder Dachau zu sprechen. Mayer gelingt es in kurzen Texten mit wenigen, aber ganz konkreten Erlebnissen seiner Interviewpartner insgesamt ein Bild der Tyrannei zu zeichnen, das anschaulicher nicht sein könnte. Von der Angst im Steinbruch ja keinen Stein fallen zu lassen, weil den Zwangsarbeitern die Wachhunde der SS-Aufseher sonst in die Genitalien gebissen hätten ? darauf waren sie abgerichtet. Von der Asche der vergasten und verbrannten Häftlinge, die die noch lebenden auf den Lagerwegen verteilen mussten. Von dem Mädchen, das erwischt wurde weil es zwei Tomaten unter seinem Kopftuch schmuggelte ? von SS-Offizieren mit Fäusten und Füßen zerschlagen bis erst die Tomaten, später das Blut aus dem Kopftuch tropfte. Von dem Überlebenden, der nach der Befreiung einen Mithäftling in der Küche sterben sah, weil er völlig entkräftet in einen Kochtopf fiel. Aber auch von der Rückkehr in die Heimat, in der manche als Sympathisanten der Nazis galten ? sonst hätten sie doch wohl kaum überlebt, so die Behauptungen des russischen Geheimdienstes. Von der kargen Rente, von der sie heute kaum überleben können ? oder nur dann, wenn sie das Licht nur bei absoluter Dunkelheit einschalten, denn der Strom ist für sie teuer, manchmal zu teuer. Von dem Traum, Kinder zu bekommen ? zerstört von NS-Spaß-Ärzten, die ja nach Belieben an den Häftlingen herumoperierten.
Viele der Überlebenden führen heute ein Leben in Armut, alle eines in Bescheidenheit. Und bei allen Tränen: alle wirken froh, dass sich jemand für sie interessiert, ihnen zuhört und vor allem ihre Geschichten an die nächste und übernächste Generation weitergibt, damit mit ihren Geschichten sich die Geschichte nicht wiederholt. Auch wenn Mayer genau weiß, dass in 60 Jahren die Überlebenden im Irak, in Jugoslawien oder in Ruanda ebenso erzählen und mahnen werden wollen. Jede einzelne ihrer Geschichten, jeder einzelne Zeitzeuge, jeder Überlebende sollte einen Till Mayer treffen, der zuhört, die Geschichten aufschreibt und das kollektive Erinnern fördert.
Tim Birkner / 6. November 2007.