1. August 2007
VON CHRISTA BURKHARDT
Eine Geburt dauert beim ersten Kind zwölf Stunden. So lautet die derzeit gültige Lehrmeinung der Schulmedizin. Eine Geburt dauert solange wie sie eben dauert. Und die Uhr ist kein geeignetes Messinstrument, sagen Frauen, die geboren haben und erfahrene Hebammen.
COBURG - "Es ist wie bei einer Bergwanderung. Auf einem Schild am Fuß des Berges steht: "Vier Stunden bis zum Gipfel'. Jeder Wanderer weiß: Das ist eine Orientierungshilfe, mehr nicht. Denn jeder Wanderer braucht so lange zum Gipfel wie er eben braucht", sagt eine der wenigen Hausgeburtshebammen in Oberfranken, Cordula Hartl, und fügt hinzu: "Bei uns dürfen sich die Frauen Zeit lassen zum Gebären."
Cordula Hartl mag den Vergleich der Geburt mit einer Bergwanderung und verwendet diesen auch in ihren Geburtsvorbereitungskursen immer wieder. "Ich als Hebamme bin so etwas wie der Bergführer. Ich kenne den Weg. Aber hoch laufen müssen die Frauen alleine."
Manche Frauen gehen den Weg zum Gipfel langsam und gleichmäßig. Manche machen unterwegs öfter Pausen. Und wieder andere stürmen dem Gipfel regelrecht entgegen. "Ich kann dabei sein, Mut machen und bei Bedarf den einen oder anderen Tipp geben. Aber es ist tatsächlich wie bei einer Bergwanderung: Nicht jede Frau braucht die gleiche Unterstützung. Jede Frau muss ihren eigenen Weg finden. Die Mutter kriegt das Kind, nicht die Hebamme."
Die Mutter kriegt das Kind. Die Frau gebiert ihr Kind, und mit dem Kind werden sowohl eine Mutter als auch eine Familie geboren. Ein Kind mit all seinen Eigenschaften und Eigenarten, eine Mutter, die ihr Mutter-Sein jeden Tag neu definiert, eine Familie, in der andere Regeln und Betreuungsmodelle gelebt werden als im Nachbarhaus. Aber eine Geburt wie die andere dauert bei Erstgebärenden zwölf Stunden?
Cordula Hartl lächelt. Nein, denn eine Geburt, die Dauer einer Geburt, ist mit der Uhr nicht zu messen. "Eine Geburt ist sehr anfällig für Störungen. Ich habe Hausgeburten erlebt, bei denen plötzlich die Wehen aussetzten, weil ein älteres Geschwisterkind weinend aufgewacht war und getröstet werden wollte. Und als es wieder eingeschlafen war, kamen die Wehen wieder. Ich habe Klinikgeburten erlebt, die gut vorangingen, bis der Arzt hereinkam und nur schon einmal hallo sagen wollte. Nett gemeint, aber die Geburt war unterbrochen und brauchte eine Weile, bis sie wieder in Gang kam", sagt Cordula Hartl.
Ganz abgesehen davon, dass die Aufenthaltszeit im Kreißsaal nur selten mit der Dauer der Geburt identisch ist. Wie oft erzählen junge Eltern: "Wir sind um halb 6 Uhr morgens in die Klinik gefahren, und um 8 war das Kind da." Cordula Hartl lächelt wieder. "Wenn man in so einem Fall nachfragt, erzählt die Frau meistens, dass sie abends schon mit Wehen ins Bett gegangen war, die in der Nacht immer intensiver wurden." Geburtsdauer zweieinhalb bis zwölf Stunden und darüber hinaus. Je nachdem wie man rechnet.
Zwölf Stunden stehen im Lehrbuch. Heute. Denn die Lehrmeinung ändert sich von Zeit zu Zeit - und auch von Klinik zu Klinik. Beispiel Blasensprung um den errechneten Geburtstermin herum: Aus irgendeinem Grund wird die Fruchtblase undicht oder platzt gar und große Mengen Fruchtwasser gehen in einem Schwall ab.
Medizinisch gesehen fängt mit so einem Blasensprung - ganz egal, ob die Frau Wehen hat - die Geburt an. Manche Mediziner sagen, das Kind soll nun binnen besagter zwölf Stunden bitteschön auch geboren sein. Andere sagen, im Lauf der nächsten zwölf Stunden sollten Wehen einsetzen. Wenn nicht, muss nachgeholfen werden. Wieder andere warten weiter. Denn für sie ist die Uhr kein geeignetes Mittel, um eine Geburt zu "messen".
Zwölf Stunden stehen im Lehrbuch. Weitere Geburten gehen übrigens schneller. Auch das steht im Lehrbuch. Maximal acht Stunden für das zweite Kind, heißt es. Auch das sei allenfalls eine Orientierungshilfe. "Ich habe schon viele Geburten erlebt. Klar, der Ablauf ist in gewisser Weise immer der gleiche. Aber das Kind ist doch jedes Mal ein anderes, vom Charakter her ganz anders, die Schwangerschaft war vielleicht ganz anders als die erste, die werdende Mutter steht in einer ganz anderen Lebenssituation als einige Jahre vorher beim ersten Kind. Wie soll da die Geburt genauso verlaufen wie beim ersten Mal?", fragt ebenso wie Cordula Hartl auch Dagmar Murmann-Patzek, die einzige Hausgeburtshebamme im Landkreis Coburg. Sieben bis zehn Kindern pro Jahr "von Burgkunstadt bis nach Thüringen hinein" hilft sie ins Leben. "Naja, was heißt helfen?", fragt sie. "Die Geburtsarbeit leistet die Frau", sagt auch sie. Und auch sie winkt ab bei allen zeitlichen Voraussagen und Standardangaben.
"Das ist doch gerade das Schöne an einer Geburt, dass man nichts planen kann. Weder wann sie los geht noch wie lange sie dauert", sagt Cordula Hartl und fügt hinzu: "Leider ist genau aus diesem Grund das Gebären aus der Mode gekommen. In unserer Gesellschaft wird alles geplant, alles Unvorhergesehene stört, und alles Ungewisse verunsichert."
Gebären ist kein zeitgemäßer Vorgang. Vor allem darin sieht sie die Gründe für Geburtseinleitungen zu Wunschterminen und Wunschkaiserschnitte. Denn dann weiß die Schwangere: Mein Kind "kommt" am Mittwoch kurz nach 9 Uhr. Das ist planbar, verlässlich, zeitgemäß. Aber eine Bergwanderung ist es nicht.