18. August 2007
VON TIM BIRKNER
"Wir müssen zeitlich und räumlich über den Tellerrand hinaussehen", sagt Andreas Gartiser. Der 46-Jährige ist Geologe in Bamberg und berät unter Anderem Gemeinden im Coburger Land bei ihrer Wasserversorgung. Wenn er Dinge beobachtet, beschreibt oder bewertet, hat er ungewohnte zeitliche Dimensionen im Kopf.
BAMBERG/COBURG - In seinem Beruf denkt man langfristig. Nicht in Wahlperioden wie Politiker, nicht bis zum Ruhestand wie viele Arbeitnehmer, sondern weit über das eigene Menschenleben hinaus.
"Die Geologen sind die einzige Berufsgruppe, die bis zu 4,6 Milliarden Jahre zurückblickt und sich solche Zeiträume überhaupt vorstellen kann", sagt er. Wer sich in soviel Vergangenheit auskennt, kann sich auch die Zukunft gut vorstellen. Die Geothermie ist so ein Beispiel.
Heute wird sie bejubelt, genutzt und von niemandem so richtig kontrolliert. Brunnen werden gebohrt, große Wassermengen gepumpt, Wärme entzogen und wieder gepumpt. "Das wird die Altlast von morgen, wenn man nicht auf die Einhaltung von Mindeststandards achtet", prophezeiht Gartiser aus der Erfahrung der Vergangenheit für die Zukunft.
Denn die praktische Nutzung der Wärme aus der Tiefe wird seiner Meinung nach langfristig auch die Qualitäten der Tiefengrundwässer beeinflussen. Auf das Tiefengrundwasser stützen sich aber die Wasserversorger auch im Coburger Land. "Der Nitratgehalt im oberflächennahen Grundwasser ist durch die Landwirtschaft so hoch, dass es als Trinkwasser unbrauchbar ist." Normal sind rund fünf Milligramm pro Liter, im Tal des Maines und der Itz sind inzwischen 60 bis 70 mg üblich, manchmal auch deutlich mehr.
Der Grenzwert der Deutschen Trinkwasservberordnung liegt bei 50 mg/l, der Richtwert der WHO bei 25 mg/l. Deshalb sucht Gartiser schon gar nicht mehr in oberen Schichten nach Trinkwasser, sondern gleich tiefer unten.
Die Nitrate sickern mit dem Wasser langsam in die tieferen Wasserleiter. In rund 50 Jahren kann sich deshalb dort der Nitratgehalt erheblich erhöht haben. Das Wasser aus den heutigen Tiefbrunnen wäre dann ungenießbar. Aber in 50 Jahren wird es kaum noch einer der heutigen Entscheidungsträger trinken müssen.
Gartiser ist Naturwissenschaftler. Er beklagt solche Wirkungen nicht, er beschreibt sie und entwirft Lösungs-Szenarien. "Dann dürfen wir eben einige Jahre kein Nitrat mehr ausbringen und können das oberflächennahe Wasser wieder verwenden", schlägt er vor.
50 Jahre sind für ihn eine ziemlich kleine Einheit. Gartiser weiß, dass andere, insbesondere Politiker, kurzfristiger denken als er. "Die Politik trifft heute Entscheidungen, die länger dauernde Konsequenzen nach sich ziehen", sagt er und fordert langfristige Konzepte. Man müsse die Leute trainieren, in längeren Phasen zu denken.
In Jahrhunderten zum Beispiel wie Gartiser bei seiner Brunnen-Suche: "Ich überlege mir, ob der Brunnen auch noch in mehreren hundert Jahren Wasser bringen kann." Oder in Jahrtausenden: "Seit zwei Jahrtausenden erleben wir bei uns einen kulturellen Höhepunkt. Was wäre wohl los, wenn unsere Vorfahren damals mit großen Baumaschinen so gewütet hätten wie wir heute?", fragt Gartiser.
Dabei sind 2000 Jahre für ihn immer noch ein kurzer Zeitraum. In 2000 Jahren haben sich die Alpen um rund zwei Meter (1 Millimeter pro Jahr) gehoben und Frankreich hat sich einige Meter von Deutschland entfernt. Der Rheingraben ist entsprechend breiter geworden.
"Ich habe Ehrfurcht vor der unermesslichen Größe von Zeit und Raum. Mit unserem menschlichen Horizont ist das nicht zu erfassen." Was religiös klingt, ist für Gartiser nur das konsequente Verfolgen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse.
Ein Beispiel: Das bei dem Betrieb von Kernkraftwerken unvermeidlich enstehende Plutonium 239 hat eine Halbwertszeit von über 24 110 Jahren. Wenn die Menschheit auf die Atomenergie setzt, muss sie also mehr als 24 000 Jahre zuverlässig auf die Strahlenquelle aufpassen können. In Tschernobyl und in allen anderen Atom-Meilern und Endlagern weltweit. Kann sie das? "Niemand kann vorhersagen, wie sich die politischen Verhältnisse oder das Klima entwickelt oder ob es in so einem Zeitraum zu kosmischen Ereignissen kommt."
24 000 Jahre, das ist zuviel für einen verantwortlichen Umgang mit der Atomenergie. Aber es ist ein Zeitraum, der allmählich interessant wird für den Geologen. Seine Augen funkeln. Auf der geologischen Übersichtskarte ist die jüngste Gesteinsschicht, der Kalk von Jura und dem Staffelberg, östlich des Maintals blau eingezeichnet. Sie lag einst auch über dem Coburger Land, wurde aber durch Erosion abgetragen. "In 24 000 Jahren ist das Blau hier wieder ein bisschen weniger", sagt Gartiser und ist mitten in der Erdgeschichte.
In den vergangenen Jahrmillionen gab es schon viele Klimawechsel, Polverschiebungen, Meteoriten-Einschläge. "Hätten wir keine Erosion, wäre die Erde so verkratert wie wir es auf dem Mond beobachten können."
Gartiser weiß, wie kurz sein eigenes Leben ist im Vergleich zur Erdgeschichte. Und er weiß, was einmal von der Menschheit übrigbleiben könnte, wenn vielleicht ein Meteorit einschlägt und sich das Klima radikal ändert oder die Erde sich schneller dreht: "Dann bleibt eine Erdschicht, die vielleicht einen halben Meter dick ist, in der die Menschheit manifestiert ist."
Gartiser zieht aus seiner naturwissenschaftlichen Sicht Konsequenzen: "Es ist nicht beeinflussbar, was erdgeschichtlich passiert. Egal wie wir handeln, ein Klimawandel wird kommen."
Für sich privat folgert er daraus: "Ich möchte Flora, Fauna und das, was wir haben, achten und ehren." Konkret bedeutet das, die hiesigen Landwirte zu unterstützen, den Müll zu trennen und nicht unnötig in der Gegend rumzufliegen. "Ich möchte mit den Ressourcen haushalten und so schonend wie möglich das Leben gestalten."
Wenn jeder einzelne der sechs Milliarden Menschen auf der Erde die vorhandenen Ressourcen schätzt, nutzt, aber nicht ausbeutet - die Hoffnung hat er - dann könnten in ein paar Millionen Jahren die Spuren der Menschheit ein kleines bisschen anders aussehen.